Autokino im Kindergarten?

Sicher haben es die meisten in den Medien erfahren: Ein Kindergarten hat in der CORONA-Notbetreuung für die Kiddis ein Autokino hergerichtet. Die Kinder saßen im Mindestabstand auf Bobbycars und sahen sich auf der Leinwand „Feuerwehrmann Sam“ an.

Was auf den ersten Blick als tolle Idee klingt, wird beim Darüber-Nach-Denken zu einer erschreckenden Idee: STILL SITZEND werden die KINDER auf ABSTAND gehalten!!!!!

Die Zeit im Kindergarten ist dafür da, um den Kindern andere Inhalte zu ermöglichen, als sie zu Hause in der Familie erhalten können. Im Kindergarten sind die Freunde da. Freunde zum gemeinsamen Spielen, Erzählen, Lachen, Forschen, Herumtollen …

Die Zeit zu Hause kann schon mal mit dem Sitzen vor dem Fernseher überbrückt werden. Aber Eltern, Großeltern wie Erzieher*innen wissen, dass diese Zeit zu Hause auch oft überhand nimmt und es auch gar nicht immer so leicht ist, den Nachwuchs von dieser Art der Beschäftigung abzubringen.

Aber warum ist das so?

Warum ist denn die virtuelle Welt anscheinend spannender als die reale?

Vielleicht ist es einfach nur die Gewohnheit. Wir haben es so gelernt, dass die Fernsehzeit einfach zum Alltag dazu gehört. Mit der ständig zunehmenden Weiterentwicklung in der medialen Welt ist diese Zeit kaum mehr auf zu Hause oder auf eine bestimmte Tageszeit beschränkt. Tablets, Handys etc. bieten uns jederzeit und überall die Möglichkeit, unsere Zeit in der virtuellen Welt zu verplempern.

Doch warum scheint das virtuelle Leben interessanter als das eigene Leben?

Warum schauen wir uns die virtuellen Gesichter an, anstatt in das Gesicht unseres Gegenübers zu schauen?

Warum lauschen wir den Worten virtueller fremder Menschen, als den Worten unseres Partners, Kindes oder Tischnachbarn?

Warum sehen wir uns spielende Kinder im Internet an, als mit unserem eigenen Kind, das im schlimmsten Fall sogar gerade neben uns sitzt, zu spielen?

Wie würden wir diese Zeit füllen, gäbe es all diese Möglichkeiten nicht mehr?

Die Zeit, die die Kinder heutzutage in der virtuellen Welt verbringen, wird immer umfangreicher. Die Kinder, die diese Welt nutzen „dürfen“, werden immer jünger. Ihre Umgebung lebt ihnen vor, dass Fernsehen, Internet & Co so viel interessanter sind, als ich selbst in der Wirklichkeit. Doch damit wird den Kindern die Chance genommen, sich selbst als Persönlichkeit und das Leben mit allen Sinnen zum Anfassen kennen zu lernen. In immer jüngerem Alter erhalten sie immer weniger die Möglichkeit, sich auszuprobieren und aus eigenen Erfahrungen zu lernen.

Auch ohne Langzeitstudien und Wissenschaftler können wir durch intensives Hinterfragen zu diesem Thema selbst herausfinden, was dieser virtuelle Umgang aus unseren Kindern macht: Sie verlieren das Gefühl für Realität. Sie sammeln keine oder zu wenig reale Erfahrungen, um für das Leben zu lernen. Der Neurowissenschaftlter Manfred Spitzer beschäftigt sich schon Jahrzehnte mit dem Zusammenhang der Persönlichkeitsentwicklung und des Medienkonsums der Kinder und Jugendlichen. Am Ende meiner Zeilen hänge ich noch einige Links mit interessantem Wissen an – für alle, die sich noch ein wenig mehr darüber belesen wollen.

Jeder, der sich mal darüber Gedanken macht, wird herausfinden, dass das virtuelle Leben den Kindern nicht die Grundlage bietet, um sich mit allen Sinnen zu entwickeln. Defizite in der Sprache, in der motorischen Entwicklung, im sozialen Miteinander, im Mitfühlen für den anderen sind erschreckend und nehmen scheinbar unaufhaltsam zu.

Doch es ist nicht unaufhaltsam! Jeder kann zumindest seinem eigenen Kind das reale Leben vorleben: zuhören, reden, spielen. Auch sollten die Kinder an den alltäglichen Dingen teilhaben. Denn einkaufen, kochen, Staub saugen, Wäsche waschen etc. sind auch Inhalte des Familienlebens. So lernen die Kinder von klein auf, dass sich diese Dinge nicht von allein erledigen. Viele Familien lassen die Kinder daran nicht teilhaben. Wenn sie sie dann aus dem Kindergarten nach Hause holen, ist vieles vorbereitet. Aber genau das wären Inhalte, mit denen wir unsere Gemeinsamzeit in der Familie verbringen können. Es braucht oft nicht großartige umfangreiche Ideen, um den Kindern etwas zu bieten und sie von Fernsehen & Co fernzuhalten. Die alltäglichen Dinge bieten so viel, bei denen die Kinder ihre Zeit verbringen und sich mit allen Sinnen entwickeln können.

Der zweijährige Paul möchte seinem Papa stolz zeigen, dass er es geschafft hat, einen soooooo hohen Turm aus den bunten Bausteinen zu bauen. Doch Papa kann gerade seinen Blick nicht von seinem Handy nehmen. Ein Video auf YouTube fesselt ihn und er wirft seinem Sohn völlig teilnahmslos ein „Gleich“ entgegen. Das stolze glückliche Lächeln von Paul verwandelt sich in ein enttäuschtes Gesicht. Was macht das mit einem Kind, wenn es diese Situationen regelmäßig erlebt? Was macht das mit uns, wenn wir kein Feedback von unserem Gegenüber bekommen, weil er ins Handy schaut und wir als Mensch einfach unwichtig für ihn sind?

Babys liegen im Kinderwagen und fangen irgendwann an, den Kontakt zur Welt aufzunehmen, den Blickkontakt zu Mama zu suchen, um ein Feedback zu erhalten. Doch Mama schaut beim Schieben des Kinderwagens nebenbei ins Handy. Sie bekommt gar nicht mit, wie sich ihr Kind gerade fühlt. Sie versäumt es gerade, zu ihrem Kind eine Bindung aufzubauen. Eine Bindung, die beide durch das gemeinsame Leben begleiten wird. Eine Bindung, die dem Kind Sicherheit schenkt und die Möglichkeit bietet, Vertrauen in Mama und die Welt aufzubauen.

Was kann wichtiger sein, als das eigene Kind? OK. Ein Notfall. Da muss man schon mal ein Telefonat entgegen nehmen. In dem Moment abzuwarten, auch das muss ein Kind lernen. Aber wirkliche Notfälle, wo sofort reagiert werden muss, sind selten. Manche haben Zeit zu warten, bis das Kind mittags oder abends schläft, um die Erlebnisse des Tages zu verarbeiten.

CORONA sollte uns allen Gefühle beschert haben, die uns zeigten, wie wichtig im Leben der wahre Kontakt in der wahren Welt ist. Jeder hat auf seine Art den persönlichen Kontakt zu Familie, Freunde oder anderer Community vermisst und mehr oder weniger Gefühle erlebt, die in unterschiedlichem Maße nicht gut getan haben. Warum tun sich aber so viele dies freiwillig in Nicht-Corona-Zeiten an?

Ich erlebe Eltern, die stolz darauf sind, dass sich ihr nicht mal zweijähriges Kind mit den Knöpfen der Fernbedienung auskennt oder die Apps eines Handys kennt und dort selbstständig sein Spiel findet.

Aber braucht ein Kind mit zwei Jahren dieses Wissen?

Sollte es nicht lieber seine Erfahrungen damit machen, dass ein Turm aus Bausteinen irgendwann umfällt, je höher er gebaut wird? Sollte es nicht lieber den Wind draußen spüren und hören? Dabei beobachten, dass sich Blätter und Blumen, ja vielleicht sogar die eigene kleine Windmühle im Wind bewegen? Langsam bei schwachem und schneller bei starkem Wind? Darüber zu sprechen, bringt dem Kind nicht nur den notwendigen Wortschatz, sondern vermittelt, dass Dinge aufeinander reagieren.

Ein Kind sollte auch Niederlagen kennen lernen. Es sollte durch eigene echte Erfahrungen ermutigt den Turm wieder aufbauen, wenn er eingestürzt ist. Mit dem Ziel, ihn diesmal noch höher zu bauen. Wir alle kennen Misserfolge und die Gefühle, die sie in uns auslösen. Diese Gefühle dürfen wir den Kindern nicht vorenthalten. Den Umgang mit diesen Gefühlen müssen sie selbst lernen, um später als Erwachsener bei einem Misserfolg nicht alles hinzuschmeißen, sondern weiter zu machen.

Emotionale Erfahrungen und den Umgang mit Niederlagen lernen sie nicht in der virtuellen Welt kennen. „Feuerwehrmann Sam“ kann die Kinder nicht spüren lassen, wie schwer so ein Feuerwehrhelm ist, wie das Feuer knistert oder schwarzer Rauch beißend riecht. Schmerz, Freude, Freundschaft zu fühlen ist viel wichtiger, als dies alles auf einem Display zu sehen.

Ich hoffe, dass der Autokino-Kindergarten beim weiteren Darüber-Nach-Denken nicht jeden Mittwoch das Autokino eröffnet, so wie ursprünglich geplant.

Ich hoffe, dass der Kindergarten ein Ort für Kinder bleibt, an dem Kinder sich jederzeit in allen realen Bereichen des Lebens ausprobieren und entdecken können.

Ich hoffe, dass auch Erzieher*innen, für die es normal geworden ist, im Beisein der Kindergruppe ins Handy zu schauen, wach werden und ihr eigenes Verhalten reflektieren. WhatsAppNachrichten müssen bis zur Pause warten und haben auch in der Schlafwache nichts zu suchen. Bei wirklichen Notfällen kommt ein Anruf, vielleicht sogar auf dem Diensttelefon.

Digitale Medien entwickeln sich rasant weiter und sind in der heutigen Zeit unverzichtbar. Das ist auch gut so, denn sie erleichtern uns allen das Leben in verschiedensten Bereichen und Momenten. Aber die Kinder müssen darauf vorbereitet werden, in gesundem Maße und vor allem altersgerecht damit aufwachsen. In welchem Rahmen und mit welchen Ideen – darüber möchte ich gern in einem meiner folgenden Blogbeiträge eingehen.

Heike von

Manfred Spitzer – Neurobiologe – antwortete im Tagesspiegel auf folgende Fragen:

Warum ist Fernsehen so schädlich?

„Weil es die Gehirnentwicklung behindert. Als Metapher benütze ich dafür gerne die Spuren im Schnee: Im Gehirn laufen ständig Impulse über die Synapsen der Nervenzellen; das passiert schon im Mutterleib, wenn das Ungeborene seine Umwelt ertastet oder Geräusche hört. Wenn solche Impulse immer wieder ähnlich ablaufen, entstehen quasi Spuren, zunächst in den einfachen Arealen, dann in den komplexeren, und je öfter diese Spuren benutzt werden, umso mehr verfestigen sie sich, wie bei einem Trampelpfad im Tiefschnee. Diese Spurenbildung nennen wir Lernen.“

Wäre da nicht gerade das Fernsehen mit seiner Überfülle an Geräuschen und Geschehen ein wunderbares Stimulans zur Spurenbildung?

„So denken viele, aber das ist nicht der Fall. Denn aus dem Gerät quillt nur ein schlecht koordinierter Bild- und Ton-Brei. Der Ton kommt aus versteckten Lautsprechern und stimmt oft nicht mit dem Bild überein. Ein erwachsenes Gehirn kann diese Lücken von selbst füllen, weil schon genügend Spuren gelegt sind. Aber stellen Sie sich ein Babygehirn vor, das gerade erst dabei ist, den Tastsinn, den Hörsinn, den Geruchsinn zu kalibrieren, um überhaupt erst mal zu begreifen, was ein Objekt ist. Im Gehirn entstehen dadurch nur unscharfe Spuren.“

https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/hirnforscher-manfred-spitzer-kinder-lernen-besser-ohne-computer/965756.html 30.05.2020

Folgender Link bietet einen weiteren interessanten Artikel über den Umgang mit Fernsehen und Medien im Kindesalter:

https://www.letsfamily.ch/de/kind/erziehung/articles/wie-lange-duerfen-kinder-fernsehen 30.05.2020

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